Tore tanzt (2013) – [UNCUT]
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[imdblive:rating] / 10 |
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Laufzeit | Jahr | FSK | [imdblive:runtime] min. | [imdblive:year] | [imdblive:certificate] | ||
Regie | Story | [imdblive:directors_nolink] | [imdblive:writers_nolink] | ||
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Bewertung | [imdblive:rating] ([imdblive:votes] Stimmen) | ||
Der junge Tore (Julius Feldmeier) will in Hamburg mit religiösen Punks, die sich selbst „Jesus Freaks“ nennen, ein neues Leben beginnen. Unerwartet ergibt sich dabei für ihn die Gelegenheit, einer Familie bei einer Autopanne zu helfen. Der dankbare Benno (Sascha Alexander Gersak) lädt den Retter in der Not in das Gartenhaus ein, das er mit seiner Frau Astrid (Annika Kuhl) sowie den beiden Kindern Swanny (Swantje Kohlhof) und Dennis (Til-Niklas Theinert) bewohnt. Tore wiederum hält die zufällige Begegnung für ein göttliches Zeichen und freundet sich mit Benno an, auch mit der 15-jährigen Swanny versteht sich der Streuner besonders gut… |
RAPID EYE MOVIES |
Tore (Julius Feldmeier) ist ein junger Jesus-Freak. Er führt ein gewaltloses Leben fest nach dem Motto „Liebe deinen Nächsten“. Eine Autopanne, die er scheinbar durch Jesus’ Beistand behebt, bringt ihn mit Familienvater Benno (Sascha Alexander Geršak) zusammen. Er lädt Tore für den Sommer in seine Gartenlaube ein. Zunächst fühlt sich Tore dort aufgehoben, doch das Familienidyll um Benno, seine Freundin Astrid (Annika Kuhl), seine 15jährige Tochter Sanny (Swantje Kohlhof) und den kleinen Dennis (Til Theinert) trügt. Nach und nach treten Bennos sadistische Neigungen zum Vorschein, und Tores bedingungslose Nächstenliebe verlangt ihm alles ab: Benno wird zu Tores härtester Prüfung. Oder ist es umgekehrt?
FILMSTARTS |
Der junge Tore (Julius Feldmeier) will in Hamburg mit religiösen Punks, die sich selbst „Jesus Freaks“ nennen, ein neues Leben beginnen. Unerwartet ergibt sich dabei für ihn die Gelegenheit, einer Familie bei einer Autopanne zu helfen. Der dankbare Benno (Sascha Alexander Gersak) lädt den Retter in der Not in das Gartenhaus ein, das er mit seiner Frau Astrid (Annika Kuhl) sowie den beiden Kindern Swanny (Swantje Kohlhof) und Dennis (Til-Niklas Theinert) bewohnt. Tore wiederum hält die zufällige Begegnung für ein göttliches Zeichen und freundet sich mit Benno an, auch mit der 15-jährigen Swanny versteht sich der Streuner besonders gut. Nach einigen Tagen schon wird der Punk von der Familie eingeladen, als Dauergast im Zelt auf ihrem Grundstück zu campieren. Kurz darauf wird Benno jedoch plötzlich sehr aufbrausend und gewalttätig. Tore lässt sich davon indes nicht vertreiben, sondern erkennt in den immer heftiger werdenden Misshandlungen eine göttliche Herausforderung…
-SPOILERWARNUNG- | WIKIPEDIA |
Tore – in dem Vornamen der Titelfigur ist bereits der Tor enthalten, und ein Tor ist dieser junge Mann gewiss: naiv, vertrauensselig, enthusiastisch, unschuldig, arglos, vielleicht sogar etwas einfältig. Tore ist ein „Jesus Freak“, der seine Familie durch eine Gruppe gläubiger Punks ersetzt hat. Gleich zu Beginn des Films wird er in der Elbe bei Hamburg getauft, das Tattoo „Teach Me Lord“ schimmert auf dem Rücken durch das nasse T-Shirt und unterstreicht das Handlungsmotiv des Films: Jesus ist das große Vorbild, dem Tore nacheifern will.
Kurz darauf tatsächlich ein kleines Wunder: Auf einem Rastplatz legt sich Tore (Julius Feldmeier) auf die Motorhaube eines Wagens, der nicht anspringen will, und plötzlich läuft das Auto wieder. Könnte auch Zufall sein, aber Benno (Sascha Alexander Gersak), der Besitzer, ist so beeindruckt, dass er Tore, dem Heimatlosen, eine Wohnstatt samt Verköstigung in seinem Schrebergarten bietet. Doch Benno, dieser scheinbar so großherzige Mann, ist ein Choleriker, dem schnell die Hand ausrutscht und der gern andere Menschen leiden sieht. Und Tores Verletzlichkeit befeuert seinen Sadismus nur. Benno hat ein Opfer gefunden, das er quälen und demütigen kann, wie es ihm gefällt – denn Tore ist entschlossen, immer auch die andere Wange hinzuhalten. Er will seinen Leidensweg wie Jesus hinnehmen und als Prüfung begreifen. Erst recht, als er merkt, dass Sanny und Dennis, die Kinder von Bennos Freundin Astrid, seinen Schutz brauchen.
Kritik:
Verkauft an schwule Lederkerle
Begeisterung und Ablehnung, Applaus und Buhrufe – die Hamburger Regisseurin Katrin Gebbe, Jahrgang 1983, löste bei der Weltpremiere von „Tore tanzt“ in Cannes heftige Kontroversen aus. Denn auf der einen Seite ist dieser Film ein ungemein sicher inszeniertes Debüt, das um die Möglichkeiten des Kinos weiß, sei es bei dem geschickten Einsatzes des Tons, bei der raffinierten Lichtsetzung und bei den perfekt besetzten Schauspielern, allen voran Julius Feldmeier in der Titelrolle. Doch auf der anderen Seite ist „Tore tanzt“ auch ein grausamer, unbarmherziger Film, der dem Zuschauer nichts, aber auch gar nichts ersparen mag. Katrin Gebbe zwingt das Publikum hinzusehen, auch und gerade dann, wenn es nicht mehr zu ertragen ist. Wenn Benno Tore nötigt, verdorbene Lebensmittel zu essen, oder ihn wie ein Zuhälter stundenweise an Lederkerle in einem schwulen SM-Club verkauft (was man übrigens ebenso homophob wie geschmacklos finden kann), sind diese Szenen eine Zumutung, ein Schock, ein Horror.
Glaube, Liebe Hoffnung – so sind die drei Kapitel des Films überschrieben. Das erinnert an Ulrich Seidls erst kürzlich gelaufene „Paradies“-Trilogie. In „Paradies: Glaube“ (ebenfalls von Kontroversen begleitet) präsentierte Seidl eine fromme Närrin, die ihre Mitmenschen mit fanatischer Überzeugung den Glauben an Gott nahebringen wollte. Katrin Gebbe geht mit ihrer religiösen Allegorie des Unschuldigen, dem die Passion Christi auferlegt wird, noch einen Schritt weiter. Sie überschreitet bewusst Grenzen und löst körperliches Unbehagen aus, zumal Mitleid und Identifikation hier keine Option sind. Tore könnte – auch das eine mögliche Interpretation – selbst schuld sein an dem, was ihm widerfährt. Vielleicht bringt er das Böse in den Menschen erst hervor, weil seine passive Demut so provozierend wirkt, weil er es gar nicht anders will. Naive Verblendung oder mutiges Opfer – Gebbe weigert sich, eindeutige Antworten zu geben. Als Zuschauer muss man eine eigene Haltung zu dem Film finden, und das ist gar nicht so einfach. Ein verstörender Film. Und Verstörung ist im deutschen Kino viel zu selten.
Ausgebuhtes Kino aus Cannes: Der einzige deutsche Beitrag des Festivals spaltet mit einer Verkupplung von kleinbürgerlichem Sadismus und religiöser Erlösung.
Es gibt sie: eine kurze Szene, in der Tore tanzt. Er tanzt wild, selbstbewusst, selbstvergessen – der Film kann ihm dabei kaum folgen. Der zierliche blonde Protagonist (Julius Feldmeier) bewegt sich mehr noch als aus Lust, weil er das schüchterne Mädchen Sanny (Swantje Kohlhof) aufmuntern, sie ihre alltägliche Anspannung vergessen lassen will. Beide verschwinden hinter anderen Tanzenden, die Kamera geht hinein ins Geschehen, verdoppelt die Bewegungen der Figuren, prägt subjektive und fragmentarische Eindrücke einer durcherzählten Szene. Tore tanzt will immersives Körperkino sein, Milieus und Protagonisten über die menschliche Physis, die räumlichen Haltungen und Verhältnisse erfassen. Das jedenfalls wäre eine Erklärung dafür, wieso Katrin Gebbes Debüt eine Art Rumpffilm bleibt, ein Werk, das starke affektive Wirkungen entfaltet, die nur nicht bewusst nachvollzogen werden können.
Tore, das klingt nicht von ungefähr noch Torheit. Der junge Mann ist ein Jesus Freak, auf seinem Rücken steht „Teach Us Lord“ tätowiert, er ist naiv und gutgläubig, möglicherweise auch mental etwas zurückgeblieben. So jedenfalls wirken seine Interaktionen mit anderen: Schnell euphorisch, mit leichtem, fast hüpfendem Schritt bewegt er sich, begegnet den anderen Freaks mit großen Augen und offenem Gesicht; aber auch Fremden auf der Autobahnraststätte mit einer Motorpanne springt er entgegen, als gingen ihn soziale Normen nichts an. Seine Überzeugungen, die gefundene Religion, die eine besonders strenge, aber in den Ritualen jugendlich-freie Form der Ehrerbietung bedeutet, befolgt er mit überschwänglichem Ernst. Einmal sagt er im Scherz, er sei ein Prophet. Ein anderes Mal will er unbedingt in einer Begegnung mit einem Ungläubigen eine göttliche Mission erkennen. Kurz darauf stürzt er sich in das Familienleben von Benno (Sascha Alexander Gersak), der ihn hilfsbereit bei sich aufnimmt, als Tore eine Couch zum Übernachten braucht.
Um das Experiment Hardcore-Jesus-Freak trifft kleinbürgerliche atheistische Familie geht es im Folgenden, einem in drei Kapitel unterteilten Film: Glaube – Liebe – Hoffnung. Das klingt etwas großspurig, und tatsächlich oszilliert Tore tanzt immer wieder zwischen kleinem Fernsehspiel – mit konventionellen Plot Points, routinierter Montage und schnell eingeführten Stereotypen – und einer Hinwendung zum (Festival-)Kino mit entsprechend freierer Dramaturgie, der Emphase von Momentaufnahmen und der Absage an psychologische Antworten. Gebbe hat das Drehbuch selbst verfasst, beraten von Matthias Glasner, mit Filmen wie zuletzt Gnade (2012) im deutschen Kino vielleicht der Apologet einer religiös gedeuteten Sühne des Perversen, die sich zugleich immer an Gewalt und Leid ergötzt. Nun, Gebbe ist nicht Glasner, vor allem beherrscht sie die filmischen Mittel nicht in der gleichen Weise, sie sucht aber auch die Grenzüberschreitung aus einer weniger distanzierten, weniger sicheren Perspektive. Ohne über schlichte Identifikationsmuster zu gehen, schafft Tore tanzt eine grundsätzliche Sympathie für seinen Protagonisten, wer kann dem Tor schon Böses wollen? Dass es anders kommen muss, ist freilich in der Figur und der Begegnung mit Benno angelegt. Vom Kumpel wandelt sich Letzterer schnell zum Peiniger. Tore hält die zweite Wange hin.
Er lernt die Hölle auf Erden kennen und begreift sie als Prüfung. Vor allem die beiden Kinder eines anderen Mannes, mit denen Benno und seine Freundin Astrid (Annika Kuhl) zusammen in einem Schrebergartenhäuschen den Sommer verbringen, will er beschützen. Sein Opfer soll sie stark machen. Gebbe hat mit ihren Figuren und Zuschauern einiges an Tortur vor. Wirkungsvoll lotet sie das Unbehagen und ein geradezu körperliches Unwohlsein bis an die Grenze aus. Filmisch ist das zwiespältig gelöst, weil die Kamera keine dezidierte Position zum Geschehen findet. Sie sucht die Nähe, hält drauf, schafft aber fast nie eine Ebene, auf der man als Zuschauer etwas anderes als Mitleid empfinden könnte. Zwar verhindert sie auf den ersten Blick eine Distanz, erlaubt aber nur eine schlichte Einfühlung auf die grundlegendste, instinktive Art. Gerade die soziale Dimension kommt viel zu kurz. Wo anfangs mit großzügigen Pinselstrichen die Milieus der Jesus Freaks und der kleinbürgerlichen Zelle angekündigt werden, folgt im Verlauf der drei Episoden keine Entwicklung, wenig Nuancen und auch keine These. Die Figuren sind vielmehr parabelhaft angelegt, wofür die ins Naturalistische hineinragende Umsetzung aber wiederum zu sehr vorgibt, Abbild zu sein.
So sitzt der Film zwischen den Stühlen und wird mit fortlaufender Dauer zunehmend schwer auszuhalten. Von der Anlage her ist Gebbes Inszenierung gar nicht verkehrt, man wünscht sich schließlich auch keine weitere autoritäre Gewaltverbildlichung à la Haneke. Dennoch scheitert der Film an seiner Unentschiedenheit, an der wahrgenommenen Willkür in der Darstellung. Als kurzer Schock im Kinosaal funktioniert Tore tanzt dagegen überraschend gut, vor allem wenn man sich vergegenwärtigt, wie wenig davon über den simplen Effekt hinausgeht und wie holprig die Konstruktion letztlich bleibt. Gebbe wagt einen Drahtseilakt zwischen dramaturgischer Eindeutigkeit und filmischer Offenheit. Immerhin gab es Buhrufe in Cannes. Nicht die schlechteste Form der Auszeichnung.
Ein junger Mann, der bereitwillig Folter über sich ergehen lässt, weil er es als eine Prüfung seines Glaubens versteht? Das wirkt heute fremd, verstörend, radikal, macht aber Tore tanzt zu einem der sehenswertesten deutschen Filmen des letzten Jahres.
Kompromissloses Drama um einen jungen Jesusfreak, das in der Sektion Un Certain Regard in Cannes Begeisterung und Buhrufe erntete.
Die kontroversen Reaktionen waren vorhersehbar, die Passionsgeschichte eines jungen und sehr gläubigen Mannes provoziert und weckt Abwehr. In Katrin Gebbes Regiedebüt hält Tore, ein ziemlich naiver Jesusfreak, wie in der Bibel seinen Peinigern nicht nur die eine, sondern auch die andere Wange hin. Der schüchterne „Jesuskrieger“ wie er sich nennt (Julius Feldmeier), lebt demonstrativ in Friedfertigkeit und Keuschheit. Er landet bei einer White-Trash-Familie in der nicht mehr heilen Schrebergartenwelt vor den Toren Hamburgs, darf im Zelt übernachten und sich kurzfristig als Mitglied einer Patchworkfamilie fühlen, bei Benno (Sascha Alexander Gersak), dessen Lebensgefährtin, deren Teenage-Tochter und dem kleinen Sohn. Durch seine demütige Opferhaltung fordert Tore die Erwachsenen, allen voran den Mann, zu immer größeren Aggressionen heraus. Das reicht von ein paar Boxschlägen zu Missbrauch im Stricherclub bis hin zu sadistischen Spielchen, die in einer Gewaltorgie enden, in dem auch Frauen nach einem feuchtfröhlichen Abend kräftig mitmischen.
Das Drehbuch zu der Tragödie, die die Schmerzgrenze weit überschreitet, schrieb die Absolventin der Hamburg Media School selbst. Inspiriert wurde sie von einer Zeitungsnotiz über einen Jungen, der von einer Familie wie ein Sklave gehalten wurde und von Dostojewskis „Idiot“, einer Figur reinen Herzens. Die religiöse Dimension manifestiert sich in der Kapitelaufteilung in Glaube, Liebe, Hoffnung, in denen sich der Außenseiter und Märtyrer auf einen Kreuzweg bis zum bitteren Ende begibt, sich für andere aufopfert und einen Menschen rettet. Gebbe vermeidet in dieser erbarmungslosen Versuchsanordnung eine billige Täter-Opfer-Pauschalisierung, obgleich nur schwer nachzuvollziehen ist, warum scheinbar durchschnittliche Menschen in brutalsten Sadismus abdriften und Frauen zu enthemmten Folterinnen mutieren. Ein harter und zugleich starker Film, der dem Zuschauer unerbittlich und bis zur letzten Konsequenz mit dem Bösen im Menschen konfrontiert und ihm dabei einiges abverlangt. Zu welcher Uhrzeit ZDF/Das Kleine Fernsehspiel diese gewalttätige Gratwanderung überhaupt ausstrahlen kann, bleibt abzuwarten.
Nachdem Katrin Gebbe in der Zeitung über die Versklavung eines Menschen in einer Kleingartenanlage gelesen hatte, schrieb sie das Drehbuch für ihren Debütfilm, das Drama „Tore tanzt“.
Der sanftmütige Tore wird zum Opfer sadistischer Gewalt. Obwohl er nicht eingesperrt ist, bleibt er bei seinen Peinigern, denn er glaubt, dass Jesus ihm diese Prüfung auferlegt habe.
Provoziert seine Wehrlosigkeit die Misshandlungen? Schwingt bei der Passion auch Masochismus mit? Katrin Gebbe legt sich da nicht fest. Sie verrät auch nichts über die Vorgeschichte. Wir erfahren weder, woher Tore kommt noch warum Benno mit seiner Familie in einem Schrebergarten haust. Katrin Gebbe konzentriert sich in dem verstörenden Drama „Tore tanzt“ ganz auf die Dynamik hier und jetzt.
Immerhin verhilft Tores Leiden – hat es etwas mit gewaltfreiem Widerstand zu tun? – einer 15-Jährigen zur Selbstbefreiung.
Im Namen der Hauptfigur steckt das Wort Tor, das sowohl Tölpel als auch Durchgang bedeutet. Das ist gewiss kein Zufall. Katrin Gebbe hat „Tore tanzt“ in drei Kapitel gegliedert: Glaube, Liebe, Hoffnung. Die Inszenierung ist minimalistisch, realistisch und gnadenlos.
„Tore tanzt“ wurde 2013 bei den Filmfestspiele in Cannes in der Reihe „Un Certain Regard“ gezeigt.
Leider sieht der Film in all dieser Figurengebung auch keinerlei Ambivalenzen, geschweige denn biografische Kausalitäten oder folgerichtige Entwicklungsschritte, er und seine unheilschwanger schwankende Kamera und seine zum Ertauben hypnotisch dräuend rumpelnde Musik schieben den Zuschauer stattdessen zu seinem altbekannten dichotomischen Endurteil: Die Menschheit ist von Natur her böse, und ihr zu helfen ist nur Gott imstande, oder Jesus, der daselbst sich opfert und zermatscht im Tümpel liegt. Es gibt nämlich noch ein dezent angedeutetes Happy End. Aber nicht für Tore, sondern für die Stiefkinder. War nämlich doch kein Scherz, dass Tore der neue Messias ist.
Ein Film mit einer Message und mit einem Messias. Wie lange haben wir darauf schon gewartet? Wie schön, dass die Problematik der Welt immer mal wieder so einfach herzuleiten ist, und überhaupt Danke für dein Opfer, Jesus/Tore! Jetzt schmeckt uns die Butter auf dem Brot wieder und die fiesen Prolls und Päderasten gehen sich alle schämen.
Schlussbemerkung: Was soll dieser Film? Das Thema Passionsgeschichte hat doch schon Lars von Trier mehrfach in seinen Filmen und besonders vielschichtig und doppelbödig und dreifach gebrochen in „Breaking the Waves“ verhandelt. Bis ins Detail kann man wiedererkennen, an welchen Stellen sich die Regisseurin von „Tore tanzt“ von diesem Film hat inspirieren lassen. Aber wo Trier die Reflexion über das Wesen der christlichen Religion(en) erfolgreich befördert hatte (da wo „Breaking the Waves“ als Film das Zeug hatte, gleichzeitig Atheisten zum Christentum zu bekehren und Christen zum Atheismus), betäubt Katrin Gebbe die letzten Zuckungen des Gehirns mit einer Totschlagargumentation, die ja doch selbst unreflektiert stumpf-christlichsten Wesens ist.
Mein Urteil: Tore, ja, gerne, aber bitte nur von Hannover 96.
(3/10)
Das Lamm Gottes – eine Annäherung
Der Abspann lief, das Licht im Saal ging an und genau dann kommt wohl der spannendste aber auch schwierigste Augenblick für jede/n FilmemacherIn in Cannes: die Reaktion des Publikums. Und das Publikum hier vor Ort nimmt kein Blatt vor den Mund. Katrin Gebbe, Regie-Debütantin und einzige deutsche Vertreterin im Hauptprogramm des Festivals erhielt eine Menge Buhrufe und gleichzeitig stehende Ovationen. Es darf also mit Fug und Recht behauptet werden, dass ihr Film Tore tanzt das Publikum keinesfalls kalt lässt. Im Gegenteil, das Werk spaltet und emotionalisiert wie kaum ein anderer Film hier auf der Croisette und über keinen Film, den ich hier bisher gesehen habe, habe ich so lange nachgedacht, wie über diesen. Eine Filmkritik zu schreiben, die diesem Werk gerecht wird, ist ein wirklich schwieriges Unterfangen. Hier ist der behutsame Versuch, Tore tanzt zu erfassen und zu bedenken:
Tore (Julius Feldmeier) ist ein Jesus-Freak – ein christlicher Punker, dessen Liebe zu Gott und Glaube an seine Religion scheinbar bodenlos sind. Und Tore ist zugleich ein junger Mann mit vielen Problemen. Er scheint keine Familie zu haben, lebt von Harz IV, leidet an Epilepsie, Einsamkeit und ist wohl auch leicht zurückgeblieben. Sein christlicher Glaube ist sein Halt, das Einzige was diesem verlorenen Schaf eine Richtung und einen Sinn gibt. Als Tore eines Tages durch sein Gebet das liegengebliebene Auto von Benno (Sascha Alexander Gersak) wieder flott machen kann, denkt er, dass Gott ihn für eine Mission auserkoren hat. Benno lädt ihn ein, bei sich und seiner Familie im Schrebergarten zu wohnen. Tore nimmt an und zieht zu Benno, Astrid (Annika Kuhl), dem kleinen Dennis (Til Theinert) und der 15-jährigen Sanny (Swantje Kohlhof). Doch die Familie ist nicht die erhoffte Idylle, vielmehr stellt sich bald heraus, dass Benno ein Tyrann ist; Tores christliche Demut und Submissivität triggern seine sadistische Seite. Er will seinen Glauben „prüfen“ und beginnt den Jungen zu misshandeln. Als Tore bemerkt, dass auch Sanny unter ihrem Stiefvater zu leiden hat, denkt er, seine Mission bestünde darin, bei ihr zu bleiben und für sie zu leiden.
Buhen und Klatschen, buhen und klatschen
Es geht mir nicht aus dem Kopf, denn diese Reaktion ist doch eine gute Metapher für die Ambivalenz, die dieser Film in mir auslöst. Was für ein problematischer Film Tore tanzt doch ist. Dabei ist das größte Problem nicht die dargestellte Gewalt. Das größte Problem liegt im Grundsätzlichen dieses Werkes, das auf wackeligen Beinen steht: Vor allem das Ensemble, allen voran Julius Feldmeier als Tore, hat nicht die Kraft ,diesen Film zu tragen, dessen Geschichte zu stemmen und ihm die Glaubwürdigkeit zu geben, die diese als Fundament benötigte. Unter Science Fiction Fans gibt es eine Bezeichnung für solch eine eindimensonale Figur wie Tore, die nur darauf angelegt ist zu gut für diese sündenbeschmutzte Welt zu sein – man nennt sie „Mary Sue“. Was trotz der in dieser Figur angelegten Einseitigkeit und Passivität im Weltraum manchmal funktioniert, vermag in einem deutschen Schrebergarten aber nicht mehr glaubhaft die Geschichte voranzutreiben. Trotz einer offensichtlich leichten geistigen Behinderung und der Begründung, dass der Junge nichts anderes hat als seinen Glauben – man mag ihm sein eigenartiges Glaubenskonstrukt einfach nicht ganz abkaufen. Auch die Handlungen der anderen Hauptfiguren, seien es Bennos und Astrids Sadismen oder Sannys Passivität, sind schwer zu schlucken. Natürlich könnte man hier das Argument bringen, dass der Zuschauer eben einfach nicht glauben will und den Horror quasi leugnet. Doch das ist es nicht. Vielmehr gibt es einfach zu wenig Verankerung, zu wenige Anhaltspunkte, die das Verhalten psychologisch verankern und ihm Tiefe geben. Teil der Verstörung, die der Film auslöst, kommt eben nicht von der Gewalt, sondern von ihrem plötzlichen Einsetzen. Der andere Teil kommt aus der Verwunderung über so viel Passivität und Nichtstun, denn auch diese werden zu wenig untermauert. Wo kommt das her, wie hat sich das entwickelt? Man wird nicht mitgenommen auf diese Reise, die sowohl hier als auch in der offiziellen Synopsis im Presseheft mit „Misshandlungen“ umschrieben wird. So mag der Film beginnen, doch er endet in Aktivitäten, die man schlichtweg als Folter bezeichnen muss.
Klatschen.
Was will der Film mit seiner Geschichte eigentlich sagen? Worum geht es hier auf einer Metaebene, was ist das „big picture“? Ich weiß es nicht. Aber Fakt ist, dass er etwas auslöst, einen Gedanken oder Gefühlsprozess in Gang setzt. Eine Szene war für mich persönlich ein Schlüssel zu meiner persönlichen Reaktion auf den Film: Tore, dem nichts zu Essen gegeben wird, findet ein halbes Brathähnchen auf dem Kompost und versteckt es. Doch er isst es nicht (und hier haben wir ein Beispiel für die permanenten Verunsicherungen, die die Unausgegorenheit des Werkes immer wieder auslöst), vielmehr findet Benno das inzwischen vermoderte Fleisch. Er und Astrid zwingen ihn es zu essen – nein, Benno ist eigentlich passiv, es ist Astrid, die die Idee hat und sie auch durchführt. Und da war er, der Augenblick in dem ich mich erinnerte an den passiv-aggressiven Sadismus, den man vielen weiblichen KZ-Aufseherinnen nachgesagt hat. Und plötzlich gab es da eine Ebene der Glaubhaftigkeit, auch wenn sie fast nur auf einer unterbewussten Ebene stattfand, die sich fast wie ein psychosomatisches Symptom nur schwer entschlüsseln ließ. Warum man für Tore tanzt klatschen muss? Nicht nur, weil sich hier ein deutscher Film weit aus der Komfortzone herauswagt, sondern auch, weil er triggert. Bei mir sind es die Erinnerungen an die aus unserer Zeit heraus betrachtet ungeheuerlich erscheinenden Machtgefüge in der Nazi-Zeit und die unfassbar sadistischen Taten von Menschen, die sonst als „normal“ galten. Bei meinem Kollegen Joachim waren es wiederum Gedanken über die derzeitige deutsche Gesellschaft – ihre Gespaltenheit in Passivität und sadistisch-fröhlicher Ausbeutung.
Doch was auch immer es für den einzelnen sein mag, Tore tanzt vermag etwas, das der deutsche Film schon lange Zeit nicht mehr getan hat: er bewegt.
Verkauft an schwule Lederkerle
Begeisterung und Ablehnung, Applaus und Buhrufe – die Hamburger Regisseurin Katrin Gebbe, Jahrgang 1983, löste bei der Weltpremiere von “Tore tanzt” in Cannes heftige Kontroversen aus. Denn auf der einen Seite ist dieser Film ein ungemein sicher inszeniertes Debüt, das um die Möglichkeiten des Kinos weiß, sei es bei dem geschickten Einsatzes des Tons, bei der raffinierten Lichtsetzung und bei den perfekt besetzten Schauspielern, allen voran Julius Feldmeier in der Titelrolle. Doch auf der anderen Seite ist “Tore tanzt” auch ein grausamer, unbarmherziger Film, der dem Zuschauer nichts, aber auch gar nichts ersparen mag. Katrin Gebbe zwingt das Publikum hinzusehen, auch und gerade dann, wenn es nicht mehr zu ertragen ist. Wenn Benno Tore nötigt, verdorbene Lebensmittel zu essen, oder ihn wie ein Zuhälter stundenweise an Lederkerle in einem schwulen SM-Club verkauft (was man übrigens ebenso homophob wie geschmacklos finden kann), sind diese Szenen eine Zumutung, ein Schock, ein Horror.
Glaube, Liebe Hoffnung – so sind die drei Kapitel des Films überschrieben. Das erinnert an Ulrich Seidls erst kürzlich gelaufene “Paradies”-Trilogie. In “Paradies: Glaube” (ebenfalls von Kontroversen begleitet) präsentierte Seidl eine fromme Närrin, die ihre Mitmenschen mit fanatischer Überzeugung den Glauben an Gott nahebringen wollte. Katrin Gebbe geht mit ihrer religiösen Allegorie des Unschuldigen, dem die Passion Christi auferlegt wird, noch einen Schritt weiter. Sie überschreitet bewusst Grenzen und löst körperliches Unbehagen aus, zumal Mitleid und Identifikation hier keine Option sind. Tore könnte – auch das eine mögliche Interpretation – selbst schuld sein an dem, was ihm widerfährt. Vielleicht bringt er das Böse in den Menschen erst hervor, weil seine passive Demut so provozierend wirkt, weil er es gar nicht anders will. Naive Verblendung oder mutiges Opfer – Gebbe weigert sich, eindeutige Antworten zu geben. Als Zuschauer muss man eine eigene Haltung zu dem Film finden, und das ist gar nicht so einfach. Ein verstörender Film. Und Verstörung ist im deutschen Kino viel zu selten.